Michael Agoras: "Bitte nicht lesen, Sie sind überqualifiziert!"

Michael Agoras: "Bitte nicht lesen, Sie sind überqualifiziert!"

9. April 2018

Überqualifiziert. So werden viele gute Bewerberinnen und Bewerber jeden Tag abgestempelt, ja geradezu abgekanzelt. Das ist ganz einfach dumm. Gedanken zu einer Groteske.

 

In der Schweiz fehlt es an allen Ecken und Enden an erfahrenen Fachkräften. Trotzdem können es sich Unternehmungen offensichtlich noch immer erlauben, Männer und Frauen mit einem ausgezeichneten Ausbildungsrucksack und voll an Erfahrungen mit einem hochnäsigen «überqualifiziert», aussen vor zu lassen.

 

Von guten Personalentscheidern erwarte ich, dass sie das tun, was sie auch von ihren Kandidaten einfordern: Reflektieren. Gerade in der Personalauswahl haben sich über die Jahrzehnte Mythen eingeschlichen, die längst überholt sind. Das unsägliche «überqualifiziert» gehört definitiv dazu.

 

Niemand würde ernsthaft in Frage stellen, dass sich der Arbeitsmarkt in den letzten Jahren stark verändert hat. Das klassische Karrieremodell meiner Generation hat ernsthaft Konkurrenz bekommen. Wirtschaftlich weitgehend sorgenfrei rücken für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer andere Werte als Prestige und Karriereleiter in den Mittelpunkt. Aufgaben in der Familie, horizontale Karriereschritte und die Sinnfrage führen bei Vielen in den besten Jahren ihres Berufslebens zu einem «Downshifting».

 

„Wer eine Leiter raufgeht, kann auch wieder runter. Arbeit ist auch nicht alles - auch nicht für Leute, die hochqualifiziert sind“, trifft Buchautorin Svenja Hofert im Spiegel den Nagel auf den Kopf. Die Befreiung aus dem Karrierekorsett wagen meist sehr gut ausgebildete Personen mit einem grossen Erfahrungsschatz. Ich frage mich: Wie kann man dieses «Bewerbergold» einfach so kaltschnäuzig liegen lassen? Weil das halt schon immer so war? Oder ist gar am Ende die Angst, eine Person einzustellen, die einem selber in Sachen Erfahrung und Wissen überlegen ist, der Treiber für die noch immer inflationäre Verwendung dieses dummen Absagegrunds? Oder macht man es sich einfach und glaubt, dass diese Begründung von den Bewerberinnen und Bewerbern besser akzeptiert wird? Ich mache ganz andere Erfahrungen: Nichts schätzen Menschen im Bewerbungsprozess mehr als die Wahrheit.

 

Wer als Personalentscheider mit einem saloppen «überqualifiziert» argumentiert, ist für mich schlicht unterqualifiziert für seine verantwortungsvolle Tätigkeit. Das Unwort hat für mich etwas unglaublich Anmassendes und ärgert mich sehr. Wie kann man allein aufgrund einiger Papiere und dem Werdegang für sich selber entscheiden, was einen anderen Menschen antreibt?

 

In die gleiche Richtung denkt Professor Martin Beck. Für ihn ist es «ein Totschlagargument, mit dem Bewerber chancenlos in die Flucht geschlagen werden. Überqualifiziert, also nicht geeignet». Das ist auch für Beck geradezu absurd, ja sogar «einer der merkwürdigsten Gedankengänge, die man sich im Umfeld einer Stellenbesetzung vorstellen kann. Als ob man immer genau nur so viel Grips, Bildung, Training, Kompetenz und Kraft haben dürfte, wie in der Stellenbeschreibung ausgewiesen ist. Was weniger ist, führt zum Ausschluss wegen mangelnder Kompetenz. Was über das gewünschte Maß hinausragt, führt dann zum Ausschluss wegen Überqualifizierung. Eine merkwürdige Denkweise».

 

Diese Groteske erinnert mich an die Sache mit den Querdenkern, auch so einem Ärgernis. Alle wünschen sich solche «aus der Reihe Tänzer» – aber dann doch bitteschön nicht zu sehr. Und doch so streamline, dass der CV bei den engmaschigen automatisierten Vorselektionsalgorithmen hängen bleibt. Das ist so logisch wie Werbung machen, ohne auffallen zu wollen…

 

Mein Rat: Nutzen Sie dieses weggeworfene Potenzial der «Downshifter». Entdecken Sie Ihre Neugierde wieder und laden Sie bei jeder Vakanz immer auch mindestens eine Person ein, die auf den ersten Blick nicht dem Standardprofil entspricht.