Michael Agoras: "Raus aus der Komfortzone"

Michael Agoras: "Raus aus der Komfortzone"

22. Mai 2019

Interview geführt von Mathias Liechti

Der Leidensdruck für Firmen ist bei der Rekrutierung und Selektion noch immer nicht gross genug, findet Personalexperte Michael Agoras. Wir sprechen mit ihm über die Möglichkeiten von Social Media, Werteveränderungen und eierlegende Wollmilchsäue.

Herr Agoras, welche Entwicklungen beobachten Sie momentan in der Rekrutierung?

Hat man es mit austauschbaren, wenig qualifizierten Menschen zu tun, geht es darum, möglichst effizient und fokussiert zu sein, damit man nicht viel Zeit verliert. Allerdings wird dies in Zukunft  immer seltener der Fall sein. Unsere Wirtschaft verändert sich und wird zunehmend komplexer, der Bedarf an Fach- und spezialisierten Kräften wird steigen. Darum wird die Rekrutierung – also die erste Kontaktaufnahme mit potenziellen Bewerbern – immer wichtiger. Das ist aber nur der erste Teil. Der zweite Schritt, die Selektion, ist fast noch wichtiger. Man redet von Rekrutierung und meint häufig auch die Selektion. Nach dem ersten Schritt hat man nur Unterlagen, Lebensläufe und Skills, die ganz grob dem Anforderungsprofil entsprechen, die Selektion fängt da aber erst an. Automatisierung und Digitalisierung sind hier grosse Themen. Durch immer mehr Algorithmen glaubt man, die richtigen Leute auszuwählen, was ein Grundlagenirrtum ist. Weiche Faktoren, das entsprechende Talent, die richtige Einstellung und Haltung sowie die Werte, die der Bewerber vertritt, lassen sich nicht mathematisch eruieren.

Sie sehen Rekrutierung und Selektion als zwei unterschiedliche Prozesse. Haben Sie eine Empfehlung, wie man das organisatorisch am besten löst?

Das kommt auf die Grösse und die Organisation der Firma an. In einem Konzern gibt es klare Prozesse: jede Person ist für einen bestimmten Ablauf verantwortlich. Ich stelle vermehrt fest, dass wahre Talente regelmässig durchs Anforderungsraster fallen. Etwa, weil sie eine Sprache nicht genügend gut können, der Arbeitsweg zu lang ist, sie über nicht genügend Erfahrung verfügen oder zu alt sind. Mittelgrosse Unternehmen und Konzerne mit ausgebauten HR-Abteilungen haben häufig ein breiteres Spektrum bei der Rekrutierung. Die Personalverantwortlichen führen Erstgespräche, selektieren und geben Empfehlungen. In diesen Firmen kennen die HR-Verantwortlichen unter Umständen die Abteilungen, Mitarbeitenden und deren Aufgabe nur bedingt und wissen daher zu wenig, was verlangt und gefordert ist. In kleineren, meist patronal geführten, Firmen hat vor allem der Inhaber das Sagen, der stärker ausbaubare Potenziale in den Vordergrund stellt, Rücksicht auf die Teamkonstellation nimmt und auch oft  auf seine innere Stimme hört.

Employer Branding, SEO, Social Media oder Active Sourcing: In der Rekrutierung gibt es viele Trends. Welches Instrument empfehlen Sie einem KMU mit begrenzten monetären und personellen Ressourcen?

Search Engine Optimization (SEO), also Suchmaschinenoptimierung, empfehle ich jedem. Hier geht es um Fragen der Aufbereitung und Gestaltung von Inhalten auf der Webseite. Mit wenig Geld ist da relativ viel herauszuholen. Employer Branding machen generell nur Firmen mit sehr viel Geld. Bei KMU gibt es viele «Hidden Champions», also Top-Unternehmen, welche weltweit operieren und unter einem tiefen Bekanntheitsgrad leiden. Dort, und nur dort, empfehle ich, Employer Branding zu machen. Denn der neue Mitarbeitende sucht sich seinen zukünftigen Arbeitgeber meist nach dem Brand aus. Auch Active Sourcing ist etwas, das sich viele einfach nicht leisten können oder schlicht nicht wissen, wie sie es richtig anstellen sollen. Gibt man den Auftrag für Active Sourcing an externe Dienstleister, werden die Zielpersonen lediglich rekrutiert und ohne spezifischen Auftrag nicht sorgfältig genug selektioniert. Und wie schon vorher erklärt, ist die Selektion die eigentliche Arbeit. Dies braucht dann wieder kompetente und erfahrene Ressourcen. Social Media als Rekrutierungsgarant ist überbewertet und dennoch ein zeitgenössisches Instrument der Kommunikation. Es sorgt für Präsenz. Besonders dann, wenn man Ergebnisse wie Resultate aus «Great Place to Work» kommunikativ clever nutzt. Die besten Botschafter sind immer noch die eigenen Mitarbeitenden. Wenn das richtige Fans sind, dann haben Sie ein grosses Potenzial. Nehmen Sie beispielsweise Harley Davidson als Arbeitgeber. Oder kennen Sie einen Banker, der ein Tattoo des Logos seines Arbeitgebers auf seinem Oberarm trägt?

Xing und LinkedIn oder Facebook und Instagram: Worauf sollte man beim Social Media Recruiting setzen?

Wie überall gibt es auch bei der Rekrutierung diverse Datenquellen und unterschiedlich grosse Datenmengen. Die Frage ist nicht, welche Quelle die cleverere ist, sondern, welche Quelle möglichst fokussiert Ordnung schafft. Google schafft es, diese grosse Menge zu kanalisieren und nutzbar zu machen. Ein weiterer Meilenstein steht uns mit Google-Jobs bevor. Auch LinkedIn spielt beim Recruiting eine wichtige Rolle, denn sie verfügt über breite und kanalisierte Daten, welche effizient und anwenderfreundlich genutzt werden können. Facebook und Instagram sind unterhaltsam, bringen aber nicht den für uns erwünschten Mehrwert.

Instrumente wie Talent Pools oder Community Management können sich nur grössere Firmen leisten. Wird es für KMU in Zukunft  immer schwieriger werden, im Kampf um die besten Talente mit den Grossen mitzuhalten?

Es gibt Menschen, die legen bei der Wahl ihres neuen Arbeitgebers einen hohen Stellenwert auf den Brand. Andere wiederum identifizieren sich über den Spannungsgrad ihrer Arbeit und mit der damit verbundenen Verantwortung. Da gibt es grosse Unterschiede, und ein direkter Vergleich macht wenig Sinn. Die Komplexität der angebotenen Stelle sowie das Image und der Bekanntheitsgrad der Unternehmung sind unter anderen wesentliche Treiber einer erfolgreichen Rekrutierung. Bei gross, mittelgross und klein gilt: Die Mitarbeitenden sind die wertvollsten Botschafter.

Als Softfaktor bei der Veränderung im Rekrutierungsverhalten wird gerne auf veränderte Wertvorstellungen der jüngeren Generation verwiesen. Wie schätzen Sie da die Lage ein? Und wie können Firmen darauf reagieren?

Jüngere – nicht alle – suchen vermehrt nach der Sinnhaftigkeit in ihrem Job. Bei älteren Generationen ist das weniger ausgeprägt. Treffen die beiden Generationen aufeinander, gibt es nicht immer einen gemeinsamen Nenner, was zu Spannungen führen kann. Dabei spielen die Rhetorik, die Gestik und Mimik oft den «Miesepeter» für Missverständnisse. Eine bewusste und ehrliche Kommunikation ist dabei sehr wertvoll. Allerdings bleibt die Frage, ob die Wirtschaft eine Werteveränderung zulässt, offen. Denn das Ergebnis ist am Ende das gleiche, der Weg ist einfach ein anderer. Es braucht also Führungskräfte, die die neue Generation abholen können.

Immer wieder hört man, dass monetäre Gründe nicht mehr ausschlaggebend seien für einen Jobwechsel. Sind Softfaktoren wirklich so wichtig oder zieht ein doppelt so hohes Gehalt nicht immer noch besser?

Nein, das funktioniert nicht. Es gibt verschiedene Typen von Mitarbeitenden. Ich möchte Ihnen zwei näherbringen: den «Söldner» und den «Jünger». Sie sprechen den Söldner an. Von dem bekommen Sie zwar meist eine gute Qualität, aber selten das Herz und die Leidenschaft. Anders beim Jünger. Natürlich sind marktgerechte Löhne und gute Sozialleistungen wichtig. Wichtiger aber ist die Kultur: Man muss die Mitarbeitenden wertschätzen, integrieren, projektbezogen arbeiten lassen, ihnen Verantwortung übertragen. Locken Sie einen Söldner mit einem überdurchschnittlich hohen Gehalt, wird er auch dann bleiben, wenn seine Motivation für seine Arbeit erloschen ist. Diese goldene Fessel legt niemand einfach so ab. Das Resultat wird sein, dass Sie unglückliche Menschen in Ihrem Betrieb haben, welche auf die Stimmung drücken. Eine schmerzhafte Trennung steht dann bevor.

Aber ist das nicht zu kurz gegriffen? In gewissen Firmen ist doch nicht Leidenschaft,  sondern einfach Arbeitsethik, Wissen und Ausdauer gefragt. Mit werteorientierten Millennials allein wird man doch auch nicht erfolgreich?

Sie sprechen hier von prozessorientiert geführten Firmen wie zum Beispiel Rechnungsprüfern. Diese müssen sich akribisch an Abläufe halten und analytisch denken und vorgehen. Hier gibt es wenig Kreativität und Innovation, eine Drei bleibt eine Drei. In dieser Branche ist es schon so, dass Sie mit höheren Saären die besseren Mitarbeitenden bekommen und dadurch am Ende auch die besseren Ergebnisse erzielen. Ich wäre einfach vorsichtig mit Pauschalisierungen, jede Branche hat ihre eigenen Gesetze.

Authentizität und der direkte Kontakt mit den Bewerbern werden immer wichtiger. Wird dies Jobportale in Zukunft überflüssig machen?

Jobportale wird es – zumindest in dieser Form – nicht mehr lange geben. Ihre Ausrichtung wird sich stark ändern. Es geht in Richtung Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Plattformen werden sich von rein passiven Stellenvermittlern zu aktiven Rekrutierungstools wandeln.

Stichwort Fachkräftemangel: Teilweise hat man das Gefühl, der Fachkräftemangel ist hausgemacht. In Stellenprofilen wird oft  so viel verlangt, dass Firmen gar keine passenden Bewerber finden können. Unternehmen müssen Stellen doch den vorhandenen Kompetenzen anpassen, statt Stellen mit Fachkräften zu besetzen versuchen, die es gar nicht gibt?

Zuerst einmal: Ja, es gibt eine Übernachfrage an qualifiziertem Personal. Aber aus welchem Grund? Wegen des Wachstums, nicht wegen der Verdrängung. Firmen wollen weiter wachsen, das ist der primäre Grund für den Bedarf an Fachkräften. Ob man nun acht oder zehn Prozent wächst, ist – überspitzt gesagt – zweitrangig, es ist keine Frage der Existenz. Die meisten Firmen befinden sich daher in einer Komfortzone und können sich erlauben, auf die eierlegende Wollmilchsau zu spekulieren und zu warten. Ist die Existenz ernsthaft  bedroht, können Firmen nicht mehr auf die perfekten Mitarbeitenden warten, sondern werden Kompromisse eingehen. Und dann rate ich: «Stell die Leute mit der richtigen Einstellung ein und bilde diese entsprechend aus.»

Wie kann man denn wissen, ob die Einstellung stimmt?

Man kann Schnuppertage einführen, aber nicht dieser «Gschpürsch-mi, fühlsch-mi»-Blödsinn. Potenzielle Mitarbeitende müssen gefordert und auch temporär unter erschwerten Bedingungen arbeiten oder sogar künstlich in eine Stresssituation versetzt werden. Oder man lädt sie nach dem Erst- und dem Zweitgespräch zum Essen ein. Am Imbissstand oder im Restaurant wird sich zeigen, ob die Leute Manieren haben, wie sie sich benehmen und wie ihr Verhalten in einer anderen Umgebung ist. Und, ganz wichtig bleibt: Holen Sie mindestens zwei Referenzen ein.

Gemäss einer Studie ist die verbreitetste Strategie zur Deckung des Fachkräftebedarfs die betriebsinterne Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitenden. Die Personalentwicklung nimmt also einen grösseren Stellenwert als die Rekrutierung im Ausland ein. Die Wirtschaft bildet die Fachkräfte selber aus, die sie auch braucht. Eigentlich die ideale Lösung, oder nicht?

Hier sollte man zwischen fachlichen und sozialen Fähigkeiten unterscheiden. Ein Betrieb wie die ABB beispielsweise kann seine Ingenieure intern weiterbilden. In Bereichen wie Führung, betriebswirtschaftliche Zusammenhänge oder Digitalisierung geht das aber nur bedingt. Man kann diese beispielsweise über externe Anbieter und/oder Partner ergänzen. Aber die Möglichkeiten sind begrenzt. Es ist utopisch zu glauben, dass Firmen den ganzen Aus- und Weiterbildungsbedarf selber abdecken können. Dies ist auch nicht nötig. Sehen Sie, mit dem dualen Bildungssystem haben wir ein sehr erfolgreiches System in der Schweiz. Zudem finde ich die Möglichkeiten und das sehr breite Angebot der Fachhochschulen sehr gut. Eine optimale Ergänzung zu einer Berufslehre oder einer ähnlichen Grundausbildung. Denn die «Verakademisierung» ist eine weitere grosse Herausforderung, welche in den Fachkräftemangel hineinspielt.

Wer ist denn der Treiber der «Verakademisierung»?

Für mich ist es die Wirtschaft, denn sie verlangt ungebremst nach Akademikern. Man muss sich nur einmal die Jobboards anschauen. Auch die Eltern nehme ich in die Verantwortung. Viele von ihnen glauben, ein Studium sei der einzige Weg. Aber gerade bei uns in der Schweiz kann man nach der Berufslehre immer noch die Matur nachholen und studieren. Die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Ausbildungs- und Berufswege wird nicht genügend ausgeschöpft.

Wieso nicht vermehrt ältere Mitarbeitende rekrutieren? Das Potenzial wäre doch vorhanden. Viele ältere Bewerber schaffen im Selektionsprozess aber nicht einmal die erste Runde.

Das stimmt, das ist eine grosse Herausforderung. Und eine Tatsache, bei welcher ich nicht kurzfristig wertvolle Lösungen sehe. Zuerst einmal sollte man definieren, was «älter» denn genau heisst. Was früher 55 war, ist heute 45. Und wird in ein paar Jahren vielleicht sogar unter 40 sein. Unser Sozialsystem bestraft oder, diplomatischer ausgedrückt, benachteiligt die Älteren, sie sind im Vergleich zu Jüngeren zu teuer. Hinzu kommen viele Vorurteile gegenüber älteren Mitarbeitenden. Aber wie bereits gesagt: Die meisten Unternehmungen befinden sich immer noch in einer Komfortzone. Sie können es sich erlauben, ältere Bewerber mit teilweise fadenscheinigen Begründungen abzuweisen. Bekommen sie den demografischen Wandel zu spüren, verändert sich dann wahrscheinlich auch ihr Rekrutierungsverhalten. Neben dem ungenutzten Potenzial von älteren Mitarbeitenden möchte ich aber auch jenes von Müttern nennen. Über 50'000 Mütter würden von heute auf morgen ihr Teilzeitpensum erhöhen, würden es ihnen die Umstände erlauben.

Wie schlimm kann es eigentlich wirklich um den Fachkräftemangel stehen, wenn die  beiden häufigsten Absagegründe «zu alt» oder «überqualifiziert» lauten?

Wenn man keinen Hunger hat, kritisiert man das beste Filet. Der Leidensdruck ist einfach noch immer nicht gross genug, «zu alt» und «überqualifiziert» sind Komfortzonenausdrücke.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung, dass Unternehmen das nötige Personal für Projekte oder Aufträge im Rahmen von Gig Economy rekrutieren?

Projektbezogene Arbeitsmodelle wird es vermehrt geben, der Charakter der Arbeit wird sich verändern. Wir sind alle kleine Ich-AGs und werden vermehrt bei mehreren Arbeitgebern angestellt sein. Jeder wird sich selber vermarkten, vermieten und/oder vermitteln. Besonders in der Informatik, in der Forschung und Entwicklung und in den Tech-Branchen wird das projektbezogene Arbeitsmodell zunehmen.

Wo sehen Sie die Herausforderungen für Schweizer Unternehmen im Zusammenhang mit Gig Economy? Werden von der Politik Massnahmen wie die Stellenmeldepflicht  kommen, die das Aufkommen von neuen Arbeitsmodellen erschweren wird?

Auch wenn ich das Gefühl habe, dass wir uns immer stärker überreglementieren, stehen wir im Vergleich zum Ausland immer noch einigermassen gut da. In der Schweiz lassen wir Angebot und Nachfrage auch im Arbeitsmarkt spielen. Das Ziel muss es sein, den Arbeitsmarkt auch in Zukunft so liberal wie möglich zu belassen. Ich persönlich finde, dass die MEI eine sinnlose «Verbürokratisierung» veranstaltet und die Treiber einer prosperierenden Volkswirtschaft ignoriert sowie unsere Wohlfahrt abbremsen wird. Bürokratische Hürden wie die Stellenmeldepflicht gefährden unseren Erfolg. Wir brauchen Fachkräfte und Spezialisten aus dem Ausland, das ist eine Tatsache.